Max Stirner Kunst und Religion Rheinische Zeitung. Beiblatt Nr. 165. 14. Juni 1842. Hegel behandelt die Kunst vor der Religion; diese Stellung gebührt ihr, sie gebührt ihr sogar unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte. Sobald die Ahnung erwacht, dass der Mensch in sich selbst ein Jenseits habe, d. h. dass er im thierischen und natürlichen Zustande sich nicht genüge, sondern ein anderer werden müsse (und für den gegenwärtigen Menschen ist doch wohl der andere, der er werden soll, ein zukünftiger, der erst jenseits seines dermaligen Befindens erwartet werden muss, – ein jenseitiger: so ist ja der Jüngling die Zukunft und das Jenseits des Knaben, in welches er erst hineinwachsen muss, und so ist der sittliche Mensch das Jenseits des bloss – unschuldigen Kindes): sobald jene Ahnung in dem Menschen erwacht und er darauf hindrängt, sich zu theilen und zu entzweien in das, was er ist, und das, was er werden soll, so strebt er sehnsüchtig nach dem letzteren, nach diesem zweiten und anderen Menschen, und rastet nicht eher, als bis er die Gestalt dieses jenseitigen Menschen vor sich sieht. Lange wogt es in ihm hin und her; er fühlt nur, dass sich eine Lichtgestalt in der Finsterniss seines Innern erheben wolle, aber die sicheren Contouren und die feste Form fehlen ihr noch. Mit dem im Dunkel ungewiss tappenden Volke tappt auch der künstlerische Genius eine Zeit lang nach dem Bilde ihrer Ahnung suchend umher; was aber Keinem gelingt, ihm gelingt es: er gibt der Ahnung Form, [259] er findet die Gestalt, er erschafft das – Ideal. Was ist der vollkommene Mensch, des Menschen eigenste Bestimmung, von der Alle eine Anschauung zu erhalten sich sehnen, anders, als der ideale Mensch, des Menschen Ideal? Der Künstler hat endlich das rechte Wort, das rechte Bild, die rechte Anschauung für das entdeckt, wonach Alle verlangten; er stellt es auf: es ist das Ideal. „Ja, das ist es! Das ist jene Gestalt des Vollkommenen, das ist der Ausdruck für unser Sehnen, die frohe Botschaft (Evangelium), welche unsere längst ausgesendeten Kundschafter, die labungsdurstigen Fragen unseres Geistes, heimbringen!“ So ruft das Volk bei der Schöpfung des Genies und fällt – anbetend nieder. Ja, anbetend! Der heisse Drang des Menschen, nicht allein zu sein, sondern sich zu verdoppeln, nicht zufrieden zu sein mit sich, dem natürlichen, sondern den zweiten zu suchen, den geistigen Menschen, – dieser Drang ist befriedigt durch das Werk des Genius, und die Entzweiung ist vollendet. Jetzt erst athmet der Mensch befriedigt auf; denn die Wirren seines Innern sind gelöst, die beunruhigende Ahnung – hinausgeworfenals Gestalt: der Mensch steht sich selbst gegenüber. Dieses Gegenüber ist er selbst und ist es nicht: es ist sein Jenseits, auf das alle Gedanken und Gefühle hinfluthen, ohne es ganz zu erreichen, und es ist sein Jenseits, eingehüllt und unzertrennlich verwoben mit dem Diesseits seiner Gegenwart. Es ist der Gott seines Innern, aber er ist draussen; darum kann er ihn nicht fassen, nicht begreifen. Verlangend breitet er seine Arme aus, aber das Gegenüber ist nicht zu erreichen; denn wäre es zu erreichen, wo bliebe dann das „Gegenüber“? Wo bliebe die Entzweiung mit all ihren Schmerzen und all ihrer Wonne? Wo bliebe – sprechen wir es aus, wie diese Entzweiung mit einem anderen Worte heisst! – wo bliebe die Religion? Die Kunst schafft Entzweiung, indem sie dem Menschen das Ideal entgegenstellt, der Anblick des Ideales aber, der [260] so lange dauert, bis vom unverwandten, gierigen Auge das Ideal wieder eingesogen und verschlungen worden, heisst Religion. Darum, weil sie ein Anblicken ist, bedarf sie eines Gegenstandes oder Objectes, und der Mensch verhält sich als Religiöser zu dem durch die Kunstschöpfung hinausgeworfenen Ideal, zu seinem zweiten, äusserlich gewordenen Ich, als zu einem Objecte. Hier liegen alle Qualen, alle Kämpfe von Jahrtausenden; denn fürchterlich ist es, aussersich zu sein, und ausser sich ist Jeder, der sich selbst zum Objecte hat, ohne diess Object ganz mit sich vereinigen und als Object, als Gegen- und Widerstand vernichten zu können. Die religiöse Welt lebt in den Freuden und Leiden, die sie von diesem Objecte erfährt, sie lebt in der Entzweiung ihrer selbst, und ihr geistiges Dasein ist nicht ein vernünftiges, sondern ein verständiges. Die Religion ist eine Verstandes-Sache! So hart, als das Object, das kein Frommer ganz für sich gewinnen kann, dem er sich vielmehr unterwerfen muss, so spröde ist auch sein eigener Geist, diesem Objekte gegenüber: er ist Verstand. „Kalter Verstand!?“ – So kennt ihr nichts als jenen „kalten“ Verstand? wisst nicht, dass nichts so glühend heiss, so heldenmüthig ist, als der Verstand? Censeo, Carthaginem esse delendam sprach Cato’s Verstand und er blieb unverrückt dabei; die Erde bewegt sich um die Sonne, sprach Galilei’s Verstand, selbst während der schwache Greis knieend die Wahrheit abschwur, und als er aufstand, sagte er wieder: „Und sie bewegt sich doch um die Sonne“. Keine Gewalt ist gross genug, uns den Gedanken zu verrücken, dass 2 mal 2 = 4 ist, und des Verstandes ewiges Wort bleibt diess: „Hier steh’ ich, ich kann nicht anders!“ Und die Sache eines solchen Verstandes, der nur unerschütterlich ist, weil sein Object (2 mal 2 = 4 u. s. w.) sich nicht erschüttern lässt, die Sache eines solchen Verstandes sollte die Religion sein? Ja, sie ist es. Auch sie hat ein unerschütterliches Object, dem sie verfallen ist: [261] der Künstler hat es ihr erschaffen, nur der Künstler könnte ihr’s wieder nehmen. Denn sie selbst ist ohne Genialität. Es gibt kein religiöses Genie, und Niemand wird behaupten, dass man in der Religion Genie’s, Talente und Talentlose unterscheiden dürfe. Zur Religion hat jeder gleiche Fähigkeit, so gut als zum Verständniss des Dreiecks und des pythagoräischen Lehrsatzes. Man verwechsele nur nicht Religion und Theologie; zu dieser hat freilich nicht Jeder die gleiche Befähigung, so wenig als zur höheren Mathematik und Astronomie: diese Dinge erfordern einen selteneren Grad von – Scharfsinn. Nur der Religionsstifter ist genial, er ist aber auch der Schöpfer des Ideals, mit dessen Schöpfung jede weitere Genialität unmöglich wird. Wo der Geist an ein Object gebunden ist und alles Maass seiner Bewegung ihm von eben diesem Objecte bestimmt wird (denn wollte der Religiöse durch einen entschiedenen Zweifel am Dasein Gottes über die Unübersteiglichkeit dieses Objectes dennoch hinaussteigen, so würde er damit eben aufhören ein Religiöser zu sein, etwa wie ein Gespenstergläubiger, wenn er am Dasein der Gespenster, dieser Objecte, entschieden zweifelte, kein Gespenstergläubiger mehr wäre. Der Religiöse erbaut sich nur darum „Beweise für das Dasein Gottes“, weil er, festgebannt in dem Kreise des Glaubens an dieses Dasein, innerhalb desselben sich eine freie Bewegung des – Verstandes und Scharfsinns vorbehält.), wo, sage ich, der Geist von einem Objecte abhängig ist, das er zu erklären, zu erforschen, zu fühlen, zu lieben u. s. w. sucht, da ist er nicht frei und, weil Freiheit die Bedingung der Genialität, auch nicht genial. Eine geniale Frömmigkeit ist ein eben so grosser Unsinn, als eine geniale Leineweberei. Die Religion bleibt auch dem Schaalsten zugänglich, und jeder phantasielose Tropf kann und wird doch immer noch Religion haben, weil ihn die Phantasielosigkeit nicht hindert, in Abhängigkeit zu leben. [262] „Ist denn nicht aber die Liebe das eigenste Wesen der Religion, sie, die doch ganz eine Sache des Gefühls und nicht des Verstandes ist?“ Wenn sie eine Herzenssache ist, muss sie darum weniger eine Verstandessache sein? Eine Herzenssache ist sie, wenn sie mein ganzes Herz einnimmt; das schliesst nicht aus, dass sie auch meinen ganzen Verstand einnehme, und macht sie überhaupt zu nichts besonders Gutem: denn der Hass und Neid kann auch Herzenssache sein. Die Liebe ist in der That nur eine Verstandessache, wobei sie übrigens in ihrem Titel als Herzenssache unbeschädigt bleibt: eine Sache der Vernunft ist sie nicht, denn im Reiche der Vernunft gibt’s eben so wenig eine Liebe, als im Himmel, nach Christi bekanntem Worte, gefreit wird. Allerdings lässt sich von einer „unverständigen“ Liebe sprechen. Sie ist entweder so unverständig, dass sie werthlos und nichts weniger als Liebe ist, wie manches Vergaffen in ein hübsches Gesicht oft schon Liebe genannt wird, oder sie erscheint nur zur Zeit noch ohne ausdrücklichen Verstand, kann aber zum Ausdruck desselben kommen. So ist die Kindesliebe zunächst zwar nur an sich verständig ohne bewusste Einsicht, allein nichts desto weniger von vornherein Verstandessache, weil sie nur so weit geht, als der – Verstand des Kindes, und mit ihm zugleich entsteht und wächst. So lange das Kind noch keine Zeichen von Verstand gibt, zeigt es auch – wie Jedem die Erfahrung gelehrt haben kann – noch keine Liebe: es benimmt sich als blosses Gefühlswesen und fühlt eben darum noch nichts von Liebe. In dem Maasse erst, als es die Objecte – wozu ja auch die Menschen gehören – sondert, schliesst es sich an einen Menschen mehr an, als an den andern, und mit seiner Furcht – oder, wenn man es so nennen will, seinem Respekte – beginnt seine Liebe. Das Kind liebt, weil es von einem Gegenstande oder Objecte, also von einem Menschen, in dessen Machtbereich oder Zauberkreis ge- [263] zogen wird: es versteht das mütterliche Wesen seiner Mutter wohl von anderem Wesen zu unterscheiden, wenn es sich darüber auch noch nicht verständig auszusprechen weiss. Vor jenem Verständniss liebt kein Kind, und seine hingebendste Liebe ist nichts als – das innigste Verständniss. Wer Kindesliebe sinnig beobachtet hat, dem wird die Erfahrung diesen Satz bestätigen. Aber nicht bloss Kindesliebe steigt und sinkt mit dem Verständniss des „Gegenstandes“ (so hört man ja oft, wenn auch ungeschickt, doch sehr bezeichnend die Geliebten nennen), sondern jede Liebe. Tritt ein Missverständniss ein, so verliert die Liebe während seiner Dauer mehr oder weniger, und man braucht sogar das Wort Missverständniss geradezu für Misshelligkeit, womit eine Störung der Liebe bezeichnet wird. Die Liebe ist unhaltbar und unwiederbringlich verloren, wenn man sich in einem Menschen vollständig getäuscht hat: das Missverständniss ist dann vollkommen und die Liebe erloschen. Der Liebe ist ein Object, ein „Gegenstand“ unentbehrlich. Dieselbe Bewandtniss hat es mit dem Verstande, der eben darum die eigentliche und einzige Geistesthätigkeit des Religiösen ist, weil dieser nur Gedanken über und an ein Object hat, nur Betrachtungen und Andacht, nicht freie, objectlose, „ver-nünftige“ Gedanken, welche letzteren er vielmehr für „philosophische Hirngespinnste“ ansieht und verurtheilt. Ist aber dem Verstande ein Object nothwendig, so hört seine Wirksamkeit immer da auf, wo er ein Object so ausgenossen hat, dass er nichts mehr daran zu thun findet und damit fertig ist. Mit seiner Thätigkeit erlischt sein Antheil an der Sache, weil, soll er sich liebend hingeben und ihr alle Kräfte widmen, sie ihm ein – Mysterium sein muss. Auch hierin ergeht’s ihm, wie der Liebe. Eine Ehe ist nur dann unvergänglicher Liebe versichert, wenn die Gatten sich täglich neu erscheinen, und jeder in dem andern einen un- [264] erschöpflichen Born frischen Lebens erkennt, d. h. ein Mysterium, ein Unerforschliches, Unbegreifliches. Finden sie nichts Neues mehr an einander, so löst sich die Liebe unaufhaltsam in die Langeweile und Gleichgültigkeit auf. So auch ist der Ver-stand nur, indem er thätigist, und wo er seine Kräfte nicht mehr üben kann an einem Mysterium, weil das Dunkel desselben verschwunden ist, da entfernt er sich von dem ganz verstandenen und dadurch schaal gewordenen Gegenstande. Wer von ihm geliebt sein will, der muss sich, wie eine kluge Frau, wohl hüten, ihm alle seine Reize auf einmal zu bieten; jeden Morgen einen neuen, und die Liebe währt Jahrtausende! Ganz eigentlich das Mysterium ist es, was die Verstandessache zur Herzenssache ausbildet: der ganze Mensch ist mit seinem Verstande bei der Sache, das macht sie zur Herzenssache. Hat nun die Kunst den Menschen das Ideal erschaffen und ihnen damit ein Object gegeben, mit welchem der Geist lange Zeiten hindurch ringt und in diesem Ringen mit Objecten die blosse Verstandesthätigkeit geltend macht, so ist die Kunst die Schöpferin der Religion und darf in einem philosophischen Systeme, wie das Hegels ist, ihren Platz nicht hinter der Religion einnehmen. Nicht bloss die Dichter Homer und Hesiod „haben den Griechen ihre Götter gemacht“, sondern auch Andere haben als Künstler Religionen gestiftet, wenngleich man ihnen den Künstler-Namen als zu geringfügig beizulegen verschmäht. Die Kunst ist der Anfang, das A der Religion; sie ist aber auch ihr Ende, ihr W; ja noch mehr, sie ist auch ihre Begleiterin. Ohne die Kunst und den Idealschaffenden Künstler entsteht die Religion nicht; durch ihn vergeht sie wieder, indem er sein Werk zu sich zurücknimmt, und durch ihn erhält sie sich auch, indem er sie stets erfrischt. Wenn die Kunst in ihrer ganzen Energie auftritt, so erschafft sie eine Religion und steht am Anfange derselben: niemals [265] ist die Philosophie Schöpferin einer Religion, denn nie erzeugt sie eine Gestalt, die dem Verstande als Object dienen könnte, sie erzeugt überhaupt keine Gestalt, und ihre bildlosen Ideen lassen sich nicht im religiösen Cultus anbetend verehren. Dagegen folgt die Kunst jederzeit dem Triebe, das Eigenste und Beste des Geistes oder vielmehr den Geist selbst in möglichster Fülle als eine ideale Gestalt hervorzutreiben, ihn aus dem Dunkel, das ihn umhüllt, so lange er noch in der Brust des künstlerischen Subjectes schlummert, zu erlösen, und durch Gestaltung ein Object aus ihm zu bilden. Diesem Objecte, dem Gotte, steht der Mensch dann gegenüber, und selbst der Künstler fällt vor ihm, der Schöpfung seines Geistes, auf die Kniee. Im Verkehr und Kampfe mit dem Objecte verfolgt die Religion nun einen der Kunst entgegengesetzten Weg, indem sie das Object, welches der Künstler dadurch hervorbrachte, dass er die ganze Kraft und Fülle seines Innern zu einer herrlichen Gestaltung concentrirte und sie, die mit eines Jeden eigenstem Bedürfniss und Verlangen harmonirte, der Welt als Object vor Augen stellte, wieder in das Innere, wohin sie gehört, zurückzunehmen und wieder subjectiv zu machen sucht. Sie trachtet das Ideal oder den Gott mit dem Menschen, dem Subjecte, zu versöhnen und ihn seiner harten Gegenständlichkeit zu entkleiden. Der Gott soll innerlich werden („Nicht Ich, sondern Christus lebet in mir“), die Entzweiung will sich selbst auflösen und loswerden; der mit dem Ideal entzweite Mensch strebt seinerseits dieses wieder zu gewinnen (Gott und Gottes Gnade zu gewinnen und endlich Gott ganz zu seinem Ich zu machen) und der vom Menschen noch getrennte Gott sucht anderseits jenen für das Himmelreich zu gewinnen: sie ergänzen und suchen sich beide. Aber sie finden sich nie und werden nie Eins; die Religion selbst verschwände, wenn beide jemals Eins würden, da sie nur in ihrer Trennung besteht. Daher hofft der Gläubige auch [266] nichts mehr als dass er einst zum „ Schauen von Angesicht zu Angesicht“ kommen werde. Doch die Kunst begleitet auch die Religion, indem das menschliche Innere, durch den Kampf mit dem Objecte bereichert, bald wieder in einem Genius zu neuer Gestaltung ausbricht und das seitherige Object durch frische Bildung verschönert und verklärt. Schwerlich vergeht ein Menschenalter ohne eine solche, der Kunst zu dankende Verklärung. Endlich aber steht die Kunst auch am Ende einer Religion. Heiteren Muthes nimmt sie ihr Gebilde wieder in Anspruch, und als das ihrige es behauptend raubt sie ihm die Objectivität, erlöst es aus der Jenseitigkeit, in welche es die Zeit der Religion hindurch verfallen war, und verschönert es nicht mehr bloss, sondern vernichtet es gänzlich. Ihr Geschöpf, die Religion, zurückfordernd erscheint die Kunst beim Untergange einer Religion, und indem sie tändelnd die ganze Ernsthaftigkeit des alten Glaubens darum, weil er den Ernst des Inhalts, den er an den fröhlichen Dichter zurückgeben musste, eingebüsst hat, als eine lachende Komödie aufstellt, hat sie sich selbst und damit neue Schöpfungskraft wiedergefunden. Denn – erlassen wir ihr den Vorwurf ihrer Grausamkeit nicht! – so grausam als sie in der Komödie vernichtet, so unerbittlich stellt sie wieder her, was sie von neuem zu vernichten gedenkt. Sie schafft ein neues Ideal, ein neues Object und eine neue Religion. Die Kunst kommt nicht darüber hinaus, wieder Religion zu machen, und Raphaels Christusbilder verklären den Christus dergestalt, dass er die Basis einer neuen Religion, der Religion des „von allen Menschensatzungen geläuterten“ biblischen Christus wird. Von frischem beginnt der Verstand seine unermüdliche Reflexionsthätigkeit, indem er auf und über das neue Object so lange reflectirt, bis er es durch immer tieferes Verständniss ganz inne geworden ist: mit der hingebendsten Liebe versenkt er sich in dasselbe und lauscht seinen Offen- [267] barungen und Eingebungen. So heiss er aber, dieser religiöse Verstand, sein Object liebt, so glühend hasst er auch alle, die es nicht lieben: Religionshass ist von religiöser Liebe unzertrennlich. Wer nicht an sein Object glaubt, der ist ein Ketzer, und der ist wahrlich nicht fromm, der Ketzerei duldet. Wer will es leugnen, dass Philipp II von Spanien unendlich frömmer war als Joseph II von Deutschland, und dass Hengstenberg wahrhaft fromm ist, Hegel aber gar nicht? In dem Maasse, als in unserer Zeit der Hass abgenommen hat, ist auch die religiöse Gottesliebe matt geworden und einer humanen Liebe gewichen, die nicht fromm, sondern sittlich ist, weil sie mehr für Menschenwohl, als für Gott „eifert.“ Der tolerante Friedrich der Grosse kann wahrlich nicht für ein Musterbild der Frömmigkeit gelten, wohl aber für ein erhabenes Vorbild der Menschlichkeit, der Humanität. Wer seinem Gott dient, der muss ihm ganz dienen. Es ist darum z. B. eine verkehrte Zumuthung an den Christen, dass er dem Juden keine Fesseln anlegen soll: auch der Christ mit dem mildesten Herzen kann nicht anders, wenn er nicht gegen seine Religion gleichgültig sein will oder eben gedankenlos verfährt. Denkt er verständig über die Forderungen seiner Religion nach, so muss er den Juden ausschliessen von christlichen Rechten, oder, was dasselbe ist, von den Rechten der Christen, und das vor allen Dingen im Staate. Denn die Religion ist für Jeden, der ihr nicht bloss lau anhängt, ein Verhältniss der Entzweiung. Diess also ist die Stellung der Kunst zur Religion. Jene erschafft das Ideal und gehört an den Anfang; diese hat am Ideal ein Mysterium, und wird in Jedem zu einer um so innigeren Frömmigkeit, je fester er an dem Objecte hängt und von ihm abhängt. Ist aber das Mysterium aufgeklärt, die Gegenständlichkeit und Fremdheit gebrochen und eben damit das Wesen einer bestimmten Religion ver- [268] nichtet, dann hat die Komödie ihre Aufgabe zu lösen, und durch den anschaulichen Beweis von der Leerheit oder besser Ausgeleertheit des Objectes den Menschen von seiner altgläubigen Anhänglichkeit an das Verödete zu befreien. Diesem ihrem Wesen gemäss greift die Komödie auch in jedem Gebiete das Heiligste heraus und benutzt z. B. die heilige Ehe, weil die von ihr dargestellte Ehe nicht mehr – heilig ist, sondern eine leergewordene Form, an welcher man nicht länger haften soll. Aber selbst die Komödie geht der Religion vorher, wie die gesammte Kunst: sie macht nur Raum für das Neue, dem die Kunst selbst wieder Gestalt zu geben vorhat. Macht die Kunst das Object und lebt die Religion nur in der Ankettung an das Object, so unterscheidet sich die Philosophie von beiden sehr deutlich. Ihr steht weder ein Object gegenüber, wie der Religion, noch macht sie eines, wie die Kunst, sondern sie legt vielmehr ebensowohl auf alle Objectmacherei als auf die ganze Objectivität selbst die zermalmende Hand und athmet die Freiheit. Die Vernunft, der Geist der Philosophie, beschäftigt sich nur mit sich selbst, und kümmert sich um kein Object. Dem Philosophen ist Gott so gleichgültig, als ein Stein: er ist der ausgemachteste Atheist. Wenn er sich mit Gott beschäftigt, so ist das keine Verehrung desselben, sondern eine Verwerfung: es sucht dann nur die Vernunft nach dem Funken von Vernunft, der sich in jene Form verborgen hat; denn die Vernunft sucht nur sich selbst, bekümmert sich nur um sich selbst, liebt nur sich selbst, oder liebt sich eigentlich nicht, da sie an ihr kein Object hat, sondern sie selbst ist. Neander hat daher mit richtigem Instinkte dem „Gott der Philosophen“ sein „pereat!“ gebracht. Allein, über die Philosophie haben wir uns nicht vorgenommen, hier weiter zu sprechen: sie liegt jenseits des Thema’s. Stirner. Seitenumbruch nach: Max Stirner: Kleinere Schriften und seine Entgegnungen auf die Kritik seines Werkes „Der Einzige und sein Eigentum“. Faksimilie-Neudruck der 2. Auflage Berlin 1914. Hrsg. von John Henry Mackay. (frommann-holzboog) Stuttgart-Bad Cannstatt 1976. 417 pp.