Genese vs. Geltung
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Zur Genese (=Entstehung) von großen Theorien, etwa (um etwas hoffentlich unverfängliches zu nehmen, aber man / frau kann ja heute nie wissen) der Relativitätstheorie oder der Quantentheorie: 

Klar, dass dazu eine Menge Vorraussetzungen erfüllt sein mussten, bis sie formuliert werden konnten:

  • etwa bezogen auf die gesellschaftliche Entwicklung (Messgeräte etwa)
  • die Theoriegeschichte (Mathematik z.B., oder innerphysikalisch bei Einstein z.B. Newton) 
  • und natürlich auch persönlich (genug Muße, Vorwissen, Interesse an der Fragestellung usw.)
  • es muss ein Interesse an der Theorie vorhanden sein (innertheoretisch oder in ihrer Relevanz für Anwendungsfälle) damit sie sich weiterverbreitet usw.

Alles zugegeben, aber all dies sagt nichts über die Wahrheit der Theorie selbst, ihren Wahrheitsgehalt, aus. Was sich z.B. gut daran erkennen lässt, dass man derartige Überlegungen gut machen kann (und gemacht werden, q.e.d.) ohne viel von dem eigentlichen Stoff über den geredet wird (hier z.B. die Quantenmechanik) zu verstehen.


Darauf schreibt mir ein Leser:

Selbst linke Wahrheitsliebende [...] haben ja immer wieder betont, dass die Wahrheit immer nur eine historisch-gesellschaftliche sein kann. Das aber heißt in der Konsequenz: eine 'absolute',  überhistorische Wahrheit, [...], kann es [...] nicht geben [...].

Hm, wie meinst du das ? Was meinst du mit "historisch-gesellschaftlich" im Gegensatz zu "absolut" ?

Ich kann die Rede von "historisch-gesellschaftlich" in zweierlei Hinsicht verstehen und teilen:

a) Im Hinblick auf den Unterschied von Genese und Geltung, gebe ich gerne zu, dass die Genese einer Theorie, eines Arguments, eines Gedankens usw. auch "historisch-gesellschaftlich" ist. 

Bevor Marx etwa sein Werk über den Kapitalismus schreiben konnte, mussten vielerlei Bedingungen erfüllt sein: 

  • erst mal musste der Kapitalismus selbst, der Gegenstand also, überhaupt vorhanden sein, 
  • dann greift Marx auf die Theorien anderer zurück und entwickelt in der Auseinandersetzung damit seine Theorien (wie z.B. schön an MEW 26.1-3 zu sehen ist), 
  • er benötigt Kenntnisse und einen wissenschaftlich trainierten Geist, nebst Muße (und daher Geld) für seine Studien, 
  • bei der Rezeption stößt er auf ein öffentliches Bedürfnis (1848er Revolutionäre, sich entwickelnde Arbeiterbewegung) usw.usw.

Bei der Geltung der Theorie spielt das "historisch-gesellschaftliche" höchstens insofern eine Rolle, insofern einerseits nicht vorhandene Voraussetzungen (etwa entsprechend genaue Instrumente) sich behindernd auswirken und natürlich bei "historisch-gesellschaftlichen" Themen die Theorie ihr Thema treffen muss.

b) In Hinblick auf Fortschritt, durch Aufbau auf Vorgänger und Beseitigung von Irrtümern (wobei hoffentlich keine neuen, evtl. schwereren Irrtümer eingebaut werden), kann ich ebenfalls etwas mit dieser Rede anfangen, wie ich in dem "Skeptizismus"-Artikel geschrieben habe.

c) Problematisch finde ich dagegen, wenn

c1) eine bestimmte historisch-gesellschaftliche Situation als generelle Beschränkung, jenseits der in a) dargestellten Gründe, angesehen wird (warum sollen die Griechen z.B. keine vernünftige Geometrie hinbekommen, rein a priori?).

Daraus, dass z.B. Platon ein Grieche eines bestimmten vorchristlichen Jahrhunderts und am Ende auch noch einer bestimmten Klasse war, folgt noch nichts a priori über den Wahrheitsgehalt seiner Philosophie.

c2) Und problematisch finde ich es auch, wenn aus der einfachen Tatsache, dass eine Theorie nach einer anderen Theorie entwickelt wird, die neuere Überlegen sein muss (woraus übrigens ja - nicht ganz ernst, aber in pointierten Überspitzung des darin angelegten Prinzips- folgen würde, dass diese meine gerade hier entwickelte Theorie allen anderen überlegen ist, bis du daher kommst und mir mit einer Neuen antwortest <ggg>).

Hier hat Hösle in seinem Buch  "Wahrheit und Geschichte" Gutes geschrieben:


Ein anderer Leser schreibt:

"Sagen will ich damit nur, dass es für das Soziale keine 'wahreren'  Aussagen geben kann, als innerhalb dessen, was historisch und unter gegebenen gesellschaftlichen Austauschverhältnissen als 'Denk- und Einsichtsraum' vorgegeben ist:"

Hm, hm. Richtig daran erscheint mir das triviale daran, dass man kein Werk (oder höchstens ein sehr unvollkommenes / -ständiges) z.B. über den Kapitalismus schreiben kann, solange es ihn noch gar nicht gibt.

Insofern stimme ich Dir hier zu:

" 'Das Kapital' konnte nicht in der Antike geschrieben werden"

Dass die "gesellschaftlichen Austauschverhältnisse" (ja, ich kenne natürlich diese Theorien, aber wie du bemerkst bin ich dabei, sie lustvoll auseinander zu nehmen und auf ihre Tauglichkeit & Konsistenz  zu prüfen) aber zu bestimmten Einsichten zwingen bzw. bestimmte Einsichten verbieten, willst du ja wohl nicht behaupten.

Damit ist dann aber auch wieder diese ganze Gesellschaftliches nur eine äußere Bedingung (etwa im Sinne einer Förderung oder Behinderung) und bestimmt daher nicht notwendig den Inhalt. Sondern wenn, dann hat sich der Wissenschaftler schon auch bestimmen lassen

Die ganze Anlage / Umwelt Debatte krankt z.B. daran, dass das eigenständige, freie Subjekt darin gar nicht mehr vorkommt. Kein Wunder, dass dann die Politikentwürfe auf derartiger Basis von Linker (Umwelt) bzw. Rechter (Anlage) Seite entsprechend unangenehm ausfallen.

"und das Männer prinzipiell mehrwertiger seien als Frauen wird heute nur noch in Indien in größerem Maßstab geglaubt."

Du redest hier aber selbst von Glauben, nicht von Wissen. Und Wissen ist auch nicht die Meinung der Vielen, sondern eben die Kenntnis der Gründe.

Es käme eben darauf an, mit welchen Gründen denn die Mehr-wertigkeit (lustiges Wort, weiß aber natürlich was du meinst) der Männer über die Frauen begründet wurde, denen sollte man dann schon einen Mangel ansehen / nachweisen können, wenn du meinst dass sie falsch sind.

Übrigens ist doch also gerade dieses Beispiel sehr schön geeignet, um für 'Wahrheiten' zu werben. Schließlich willst du ja wohl gerade nicht behaupten, dass die Leute früher (oder heute in Indien) recht gehabt hätten mit ihrer Frauenfeindlichkeit (oder gar dass sie evtl. in Zukunft wieder recht hätten), bloß heute bei uns nicht.

Sondern du willst ja gerade einen Fehler damals bzw. in Indien aufzeigen. Daher greifen, denke ich, die Argumente die ich in dem Aufsatz zum Skeptizismus unter (2) genannt habe: ein sinnvoller / inhaltlicher Beweis der Irrtums- / Verblendungs- / usw. Möglichkeit anhand von Beispielen geht nur bei Anerkennung / vor dem Hintergrund von Wahrheit.

Diese gilt es eben zu begründen und wenn die Gründe stimmen, dann gelten sie auch im Orient oder in Indien (oder wenn nicht, dann zeigt sich eben die relative Geltung an den Gründen).

Dass es, jenseits davon, natürlich persönliche und gesellschaftliche Interessen usw. gibt, die z.B. auf Themenwahl usw. Einfluss nehmen ist klar, ich will es aber in meiner Unterscheidung von Genese und Geltung gerade von der Geltung abgrenzen.

Vielleicht kommt die Differenz auch nur aus der Mehrdeutigkeit von "Geltung": ich meine damit "Wahrheit" im "eigentlichen", wissenschaftliche Sinne (also letztlich eine richtige, begründete Theorie, wie im Begriffsartikel dargestellt, die ihren Gegenstand trifft) und nicht dasjenige, was bei Bevölkerung, Staat oder anderen Instanzen als richtig "gilt" (i.S. von scheint).

Den Schluss möchte ich versöhnlich halten und dir aus vollem Herzen recht geben, wenn du schreibst:

"Daneben muss man auch ganz gegen Hegel damit rechnen, das sich die 'Wahrheitsbedingungen' regressiv entwickeln, also von einer schon erreichten höheren auf eine niedrigere Stufe. Man nehme allein das politische Bewusstsein (oder, was fast das gleiche ist, das Fernsehprogramm) der 70er und 90er Jahre, und vergleiche sie."

Allerdings hat das Hegel auch nicht bestritten. Hegel spricht nirgends von einer Notwendigkeit dass es keine Rückschläge gäbe oder dass es immer nur bergauf geht, eher im Gegenteil spricht er ja eher von einer Art dialektischer Bewegung, die schließt notwendig zumindest teilweise Rückschläge ein (siehe auch die interessante Theorie von Hösle in seinem Buch  "Wahrheit und Geschichte" dazu).


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