1. Es geht in einer Debatte um Hegels schwieriges Textkorpus nicht
darum, die systematischen Überlegungen zu enthistorisieren oder wie einen
Steinbruch für neue Zwecke zu gebrauchen. Es geht vielmehr um eine
re-konstruktive, nicht einfühlend-historisieriende, Bestimmung der
zentralen Fraugen, wenn man will, der 'Gegner', und der verfolgten
Methoden, wobei freilich von einzelnen und besonderen
Artikulationsschwächen zu abstrahieren ist. Dabei ist durchaus
anzuerkennen, daß auch ein intensiver Leser nicht leicht dem
Mißverständnis entgeht, daß Hegel 'hinter die Einsichten Kants
zurückfalle'. Denn dazu ist zu begreifen, wie Rückgriffe auf die
Metaphysik und Physik des Aristoteles einen 'neuen' Charakter annehmen
können als Argumente gegen verschiedene Versionen eines Kryptoplatonismus
oder einer postulierten Hinterweltkosmologie in der wissenschaftlichen
Aufklärung, und zwar sowohl im französischen Materialismus als auch im
britischen Verhaltenskognitivismus, aber dann auch noch in Kants
methodischen Physikalismus.
2. Daß die Rede von einem methodischen Physikalismus bei Kant nicht
abwegig ist, dazu hat man sich das Folgende zu vergegenwärtigen: Mit Hume
hatte Kant den apriorischen Glauben an den Kausalnexus im Materialismus
und dann auch im metaphysischen Rationalismus eines Leibniz oder Wolff als
dogmatisch erkannt. Statt nun aber den 'objektiven' Begriff der kausalen
Notwendigkeit ganz aufzugeben, strebt Kant eine Begründung des Prinzips
des Kausalnexus für den Bereich objektiven Erfahrungswissens an – und
zwar durchaus im Interesse einer Rettung des Objektivitätsanspruchs des
Newton-Projekts gegen Humes Skeptizismus. In der Kritik der Reinen
Vernunft entwickelt Kant dazu eine neuartige Weise der Begründung:
die transzendentale bzw. präsuppositionslogische. Dennoch oder gerade
dadurch bleibt Kant zumindest in den Augen Hegels Apologet eines zwar
antidogmatischen (nicht-materialistischen und nicht-metaphysischen) aber
doch physikalistischen, 'mechanistischen', Begriffs der Objektivität.
3. Hegel setzt gegen Kants erklärungslogischen Begriff des objektiven
Erfahrungsgegenstandes eine phänomen- oder besser erfahrungslogische
Reflexion auf das, was es gibt und was es zu erklären gibt. Damit gibt er
der aristotelischen Onto-Logie und Natur-Historie eine 'transzendentale'
Wende: Vor jeder genetischen oder kausalen Erklärung steht die
Formbestimmung dessen, was es zu erklären gibt. Dabei gibt es soviele
Formen, wie es Gleichheiten gibt, die ihrerseits als Nichtunterscheidungen
immer auf einen Relevanz- und Kommunikationskontext verweisen. Damit wird
der Empirismus entsubjektiviert, das transzendentalanalytische Programm
Kants entformalisiert und durch den Rückgriff auf eine neu plazierte 'historia'
der Formen der Natur und Kultur wird der der Erfahrungsbezug
radikalisiert. Das Ergebnis ist eine Einsicht in eine methodische Ordnung
in einem komplexen Aufbau von Wissenschaft und Sprache, deren geschichtete
Präsuppositionen sich nicht (einfach) durch die 'Ergebnisse' der
höheren, explikativen und erklärenden, Ebenen 'widerlegen' lassen. Dabei
argumentiert Hegel in der 'Logik' von oben nach unten, nicht aufbauend,
sondern präsuppositionsanalytisch. Es werden die Unterstellungen der
verschiedenen Wahrheits-, Gegenstands- und Objektivitätsbegriffe explizit
gemacht. Das Ergebnis ist: Keine transzendentale Deduktion der Kausalität
in einer Theorie des Erfahrungsgegenstandes und erst recht keine kausal
erklärende Theorie kann die 'empraktische' Objektivität des Lebens,
Handelns und Urteilens in Frage stellen. Damit kann Hegel Fichtes Einsicht
in das Primat der tradierten Formen des Handelns und Wissens vor jedem
Objektivitätsanspruch einer erklärenden Wissenschaft systematisch
begründen – zumal jede physikalische ('mechanische' oder 'chemische')
Erklärung längst schon im Kontext des instrumentellen Handelns und des
Interesses an bedingten Prognosen steht. Diese Einsicht verbindet den
Deutschen Idealismus mit dem Pragmatismus – und mit Heidegger. Daß die
Neukantianer und dann auch Husserls wenigstens partiell auf ähnliche
Gedanken gekommen waren, sollte nicht verwundern.
4. Es ist ebenfalls nicht zu verwundern, daß Hegels Philosophie
aufgrund ihrer prinzipiellen Beschränkung der Wissens- und
Erklärungsansprüche nicht bloß einer szientistischen Kosmologie,
sondern auch der einzelnen empirischen Wissenschaften für den
Fortschrittsglauben des späteren 19. Jahrhunderts und für das
Selbstbewußtsein der wissenschaftlichen Aufklärung des 20. ein Gräuel
ist. Man unterstellt ihr den Herrschaftsanspruch des Platzanweisers und
verkennt ihr 'spekulatives' Bemühen um topographische oder logische
Übersicht. Es geht in diesem Streit aber weniger um Hegel als um den
Begriff kritischer Philosophie. Denn eines kann diese nie sein: Magd einer
theologischen oder szientistischen Kosmologie oder Weltanschauung.
5. Auch die Gedanken, die eine Zeit nicht erfaßt, sind ein Zeichen der
Zeit.